Die größte Chance meines Lebens

Basiert auf einer wahren Geschichte


 

Wie viel Glück Gesundheit im Leben bedeutet, versteht man meistens erst dann, wenn man krank ist und sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder gesund zu sein. Doch was tut man, wenn es keine Aussicht auf Heilung gibt? Wenn man sich von Schmerzen und Ängsten geplagt, auf Therapien einlässt, die mehr schaden als nutzen, Diagnosen unklar sind und die Medizin nicht helfen  kann.  Es  gibt  zwei  Möglichkeiten.  Ent-    weder man verfällt in tiefe Depressionen und er-

gibt  sich  in  sein  Schicksal, oder man nimmt den  

                                                                                                                     Kampf auf.
Ina Christiane Sasida hat sich für die zweite Möglichkeit entschieden. In diesem Buch erzählt sie ihre wahre Geschichte, wie sie einer Autoimmunerkrankung, die von heute auf morgen ihr gesamtes Leben auf den Kopf gestellt hatte, und Ärzten, die nicht helfen konnten, die Stirn geboten, und ihren ganz eigenen Weg aus diesem Dilemma gefunden hat.



LESEPROBE

Die größte Chance meines Lebens

Oh verdammt, was war denn das? Ich war gerade aufgewacht und sah auf die Uhr. Es war drei Uhr morgens, mein rechter Unterarm tat höllisch weh und ich hatte in Daumen, Zeige- und Mittelfinger kein Gefühl mehr. Ich lag auf meiner Schlafcouch im Wohnzimmer, das seit meiner Scheidung auch gleichzeitig mein Schlafzimmer war, und wusste im Moment nicht so richtig was mit mir eigentlich los war. Aber er war da, dieser brutale, höllische Schmerz in meinem rechten Unterarm. Ach, dachte ich, da bist du wohl sehr unglücklich drauf gelegen. Ich setzte mich im Bett auf und schüttelte den Arm aus, so als wenn er eingeschlafen wäre. Aber so war es nicht. Ich wusste das eigentlich auch, denn es war irgendwie ein anderer Schmerz. Aber man probiert eben mal ein bisschen dies und das, vielleicht ist dann ja alles gleich vorbei und man kann das tun, was man um diese Uhrzeit wahrscheinlich am liebsten tut, nämlich weiterschlafen. Ich saß also bestimmt eine halbe Stunde im Bett und schüttelte meinen Arm. Und während ich so schüttelte und schüttelte, dachte ich so über die letzten Wochen nach. War es vielleicht  doch ein bisschen zu viel, was ich in der letzten Zeit gearbeitet hatte? War mein Körper vielleicht ganz einfach nur überlastet? Nun gut, wir waren vor gut sechs Wochen umgezogen. Ich hatte unsere und die Wohnung meiner Mutter alleine renoviert. Naja, vielleicht nicht ganz alleine, schließlich  hatten die Kinder ja auch geholfen. Ach so, die Kinder, die hatte ich doch fast vergessen zu erwähnen. Es waren drei. Meine beiden Töchter  und mein Sohn.  Die Mädels waren damals 17 und 13 und mein Sohn gerade mal neun Jahre alt. Es war Anfang März, als wir die Schlüssel zu unseren neuen Wohnungen erhalten hatten. Superglücklich hatten wir sie zwei Wochen vorher angeschaut. Es war genau das, was wir gesucht hatten. Zwei Wohnungen in einem Haus, eine für uns und eine für meine Mutter,  nicht weit weg von dort, wo  wir vorher gewohnt  hatten.  Alles  war  fast beim Alten geblieben. Die Kinder mussten  nicht einmal die Schule  wechseln.  Auch die Freunde waren die Gleichen geblieben. Meine Mutter war zufrieden, schließlich konnte sie nach wie vor die alten Bekannten treffen und auch der  Friedhof, auf dem sich das Grab meines Vaters befand, war nur etwa einen Kilometer von uns entfernt. Alles prima. Nach all den Wochen, in denen wir nach einer neuen Bleibe suchen mussten, schließlich war uns ja wegen „Eigenbedarf“ gekündigt worden, hatte es nun endlich geklappt. Meine Mutter, sie war immerhin auch schon 78, hatte sich wieder etwas beruhigt. Sie hatte in der letzten  Zeit immer wieder gesundheitliche Probleme. Warum? Aus Angst darüber, dass wir vielleicht keine zwei Wohnungen zusammen finden würden und jeder irgendwo anders hinziehen musste. Irgendwie war ihre Angst ja verständlich, schließlich wohnten wir  schon seit 15 Jahren zusammen in einem Haus. Und seit mein Vater gestorben war hatte sie ja nur noch mich und die Kinder. Aber war es wirklich normal, so eine Panik vor dem Alleinsein? Eigentlich hätte es mir zu denken geben sollen. Vor allem, da sie in unserer neuen Unterkunft zwar wohl ein eigenes Wohnzimmer, eine Küche und auch eine Dusche hatte, ihr Schlafzimmer jedoch hatte sie in unserer Wohnung. Naja, es war nicht gerade eine glückliche Lösung, aber es ging. Die Freude darüber, zusammen wohnen zu können, war größer als irgendein Gedanke daran, dass dieses nahe Zusammensein auch Probleme mit sich bringen könnte. Soweit waren alle glücklich und zufrieden. Doch was war mit mir? War ich auch glücklich und zufrieden? Einerseits ja, schließlich hatte ich jetzt wirklich meine Traumwohnung, aber andererseits kostete diese Traumwohnung auch die doppelte Miete als bisher. War es doch schon bisher finanziell immer eng, wie sollte ich denn dann  bloß jetzt diese ganze Sache auf die Reihe bringen? Wenn ich darüber nachdachte wurde mir ganz schlecht. Gut, ich hatte natürlich  meine Arbeit  und auch noch den einen oder anderen Nebenjob, aber das hatte ich ja bisher auch. Ich konnte rechnen wie ich wollte, Tatsache war, dass diese Wohnung verdammt viel Geld kostete und ich nicht wusste, wie wir über die Runden kommen sollten. Und dass mein Auto in gut neun Monaten so gut wie keine Chance hatte, einen neuen TÜV- Stempel zu bekommen, daran mochte ich jetzt aber noch überhaupt nicht denken. Oder etwa doch? Machte sich in meinem Hinterkopf nicht manchmal so ganz leise ein komisches Gefühl breit? Hatte ich nicht in letzter Zeit öfters einmal Magenbeschwerden? Woher kamen die denn? Ach Unsinn, mir ging es doch blendend. Ein wenig überarbeitet, das vielleicht schon, aber sonst? Nein, das konnte nicht sein. Ich doch nicht. Schließlich hatte ich bisher immer alles geschafft. Ich war zweimal geschieden,  alleinerziehend mit drei Kindern und hatte immer dafür gesorgt, dass genügend von allem da war. Wir sind in Urlaub gefahren wie jede andere „komplette“ Familie auch und auch sonst fehlte es den Kindern an nichts. Da ich immer die gesamte Kleidung der Kinder und auch meine eigene komplett selber genäht hatte, konnte ich natürlich eine Menge Geld sparen, worum ich in meinem Bekanntenkreis auch immer sehr beneidet wurde. Doch wie viele Nächte ich mir damit um die Ohren geschlagen hatte, konnte sich wohl kaum jemand vorstellen. Und nun lag ich in meinem „Bett“, hatte diesen komischen Schmerz und dachte nach.

Ja, es war vielleicht wirklich ein bisschen viel gewesen in der letzten Zeit. Das Renovieren der Wohnungen, der Umzug und gleich darauf hatte mein Sohn auch noch „Kommunion“. Das war alles in den letzten Wochen auf mich eingestürmt. Und was hatte ich doch gestern noch  alles gearbeitet. Immer noch gab es Kartons in der Wohnung, die nicht ausgepackt waren. Die hatte ich mir gestern vorgenommen. Den ganzen Nachmittag hatte ich damit zugebracht,  alles auszupacken. Es waren alles nur noch Dinge von mir, denn die Sachen der Kinder und auch von der Oma hatten wir zuerst ausgepackt, gleich nachdem wir eingezogen waren. Und am Abend hatte ich dann noch auf dem Balkon die alten Stühle abgeschliffen, die ich in einem neuen Blauton streichen wollte. War das vielleicht der Grund für meine Schmerzen im Arm? Ja, das könnte möglich sein. Das war es ganz bestimmt. Also dachte ich mir, die nächsten Tage wirst du dich ganz bestimmt schonen. Doch dieser gute Vorsatz nützte mir jetzt im Moment herzlich wenig. Ich saß nun schon bestimmt eine Stunde im Bett und hatte versucht, meinen Arm mit einem Kühlakku zu behandeln. Manchmal hört man ja solche Dinge, dass bei einer akuten Entzündung Kälte hilft. Und eine Entzündung konnte es ja vielleicht auch sein. Nach einer halben Stunde wusste ich, dass meine „Entzündung“ oder was immer es sonst war, nicht besser wurde. Also versuchte ich es mit Wärme. Ich stand auf und machte mir eine Wärmeflasche. Nach einer weiteren halben Stunde wusste ich, dass dieses Etwas sich auch nicht durch Wärme beeindrucken ließ. Warum nur tat das so verdammt weh? Ich verstand es nicht. Mittlerweile war es schon fast sechs Uhr geworden. Ich war müde und wollte eigentlich gerne schlafen. Aber ich konnte nicht. Die Schmerzen waren zu stark. Also blieb nur noch eines. Ein hammermäßiges Schmerzmittel musste her. Ich stand auf und ging zur Hausapotheke. Auf dem Weg dorthin überlegte ich mir schon, was ich denn überhaupt zu Hause hatte. Denn mit Medikamenten hatte ich es nicht so. Naja vielleicht hatte ich ja noch eine Aspirin im Medizinschrank? Ich öffnete den Schrank und durchsuchte all den alten Kram, der da drin stand. Mein Gott, dachte ich, hier musst du auch mal aufräumen. Das Zeug da drin war zum Teil so alt wie Methusalem. Aber ich fand etwas. Etwas womit ich gar nicht gerechnet hätte. Novalgin-Tropfen. Ein ziemlich starkes Schmerzmittel. Super, dachte  ich, genau das Richtige. Ein  Blick auf das Verfalldatum. Perfekt,  noch nicht abgelaufen. Ich holte den Beipackzettel heraus und suchte die Dosierung. Ich schluckte die höchstangegebene Menge und legte mich wieder ins Bett. Gleich wird es besser, dachte ich. Nach einer halben Stunde war es immer noch nicht weg. Na gut, dachte ich, vielleicht dauert es halt ein bisschen länger, wenn der Schmerz so stark ist. Ich hatte schließlich noch nie so starke Schmerzen. Ich wartete noch einmal eine viertel Stunde und noch eine. Aber es änderte sich nichts.  Also dachte  ich,  schluckst du  noch einmal die Tropfen. Vielleicht reicht ja einfach die Dosis noch nicht. Nach einer weiteren Stunde wusste ich, dass auch die zweite Dosis nicht ausreichte, um diesen Schmerz zu beseitigen. So langsam machte ich mir nun doch Sorgen. So etwas hatte ich ja noch nie erlebt. Mittlerweile war es auch schon Morgen geworden und ich hätte eigentlich aufstehen müssen, da ich ja schließlich zum arbeitenden Teil der Bevölkerung gehörte. Arbeiten? Mit diesen Schmerzen? Ein völlig irrer Gedanke. Also stand ich auf, rief meinen Chef an, sagte ihm was passiert war und dass ich zum Arzt gehen musste. Daraufhin rief ich beim Arzt an. Doch was war das? Mein Hausarzt war in Urlaub. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Ich war am Schimpfen und am Fluchen. Was sollte ich denn nur jetzt tun? Das ganze Jahr über brauchte ich keinen Arzt, nicht einmal wegen einer Erkältung oder einer Grippe. Und jetzt brauchte ich ihn einmal und dann war er nicht da. Himmeldonnerwetter noch einmal! Was nun? Auf dem Anruf-beantworter der Praxis waren ein paar Ärzte genannt worden, die Vertretung hatten.  Also rief ich einen davon an. Es war ein Orthopäde. Egal, dachte ich,  Hauptsache ein Arzt.  Ich rief an und bekam auch einen Termin. Also nichts wie hin. Nun stand ich einem Arzt gegenüber, den ich im Leben noch nie gesehen hatte und sollte ihm mein Problem mitteilen. Nun gut, dachte ich. Mir ist sowieso  alles egal, wenn es mir nur hilft und diese höllischen Schmerzen ver-schwinden lässt. Ich erzählte ihm also von meiner Umzieherei, meiner vielen Arbeit der letzten Zeit, denn so ganz nebenbei hatte ich auch noch viel für eine Firma genäht. Und dann nicht zu vergessen das Ballettstudio, für das ich seit der Ballettzeit meiner Tochter jedes Jahr zur Aufführung Kostüme genäht hatte. Alles fing damals eigentlich ganz harmlos an. Für die erste Ballettaufführung meiner Tochter musste ich dieses Kostüm, das sie damals getragen hatte, kaufen und das war ziemlich teuer. Deshalb hatte ich das nächste Jahr ihrer Ballett-lehrerin gesagt, dass ich  nur den Stoff kaufen und das Kleid oder den Rock daraus gerne selber nähen wollte. „Oh Sie können nähen?“,  war der überraschte Ausruf von ihr. Ja das konnte ich. Also wurde ich gefragt, ob ich denn nicht für die ganze Gruppe die Kleider nähen könnte, damit gewährleistet wäre, dass alle gleich wären. Und so fing das damals an. Und aus am Anfang einer Gruppe wurden dann zwei und dann drei und vier und zum Schluss bin ich dann noch bei der Generalprobe auf der Bühne herum gehüpft und habe noch die letzten Änderungen an den Mädels vorgenommen. Das war Stress pur. Und bin dann am Tag der Aufführung mit Nadel und Faden in der Handtasche im Publikum gesessen und habe gehofft, dass alle Nähte halten und dass sonst kein Missgeschick geschieht. Der Arzt sah mich an und meinte, dass das natürlich schon extrem viel war, was ich da so in der letzten Zeit geleistet hatte und es könnte,  nachdem er meinen Arm abgetastet hatte, ein „Carpal Tunnel-Syndrom“ sein. Kurzum verließ ich eine halbe Stunde später mit einem Gips an meinem rechten Unterarm, einer Schachtel Medikamente und einer Krankmeldung das Sprechzimmer. Aha „Carpal-Tunnel-Syndrom“ nennt sich das. Na gut. Jetzt hatte das Kind ja immerhin einen Namen. Und wenn man erst einmal weiß, was es ist, kann man ja auch etwas dagegen tun. Nur gab es noch  ein  kleines Problem. Heute war Freitag und ich sollte in ein paar Tagen zum Nachschauen kommen, aber da sie ab nächster Woche leider in Urlaub wären,  müsste ich dann  zur Vertretung gehen, ließ mich die Arzthelferin wissen.  Nun gut. Etwas erleichtert verließ ich die Praxis.  Die Vertretung von der Vertretung war ein Chirurg. Also ließ ich mir einen Termin für Montag geben. Es war soweit ja nun alles geklärt, bis auf die Tatsache, dass sich an meinen  Schmerzen überhaupt nichts geändert hatte. Ich konnte nichts, aber rein gar nichts zu Hause tun und nachts konnte ich nicht schlafen. Die Schmerzen waren unerträglich. Also ging ich am Montag-morgen zum Chirurgen. Der hörte sich meine Geschichte an und meinte, dass seiner Meinung nach ein Gips nichts bringen würde. Also wurde er entfernt. Als nächstes  wurden mehrere  verschiedene  Blutuntersuchungen durchgeführt.  Der Arm  wurde  eingesalbt  und  zugebunden. So wurde ich nach Hause geschickt. Bis die Blutergebnisse da wären sollte ich mich gedulden. Zwei Tage später war es dann soweit. Ich hatte mich schon gefreut, jetzt endlich eine vernünftige Diagnose zu erhalten und somit auch eine Möglichkeit zu finden, diese Schmerzen, diese qualvollen Schmerzen, endlich wieder loszuwerden. Doch leider hatte ich mich zu früh gefreut. Es gab zwar gewisse Anzeichen auf irgendwelche Entzündungen, aber nichts Genaues. Es waren aufwändigere Untersuchungen nötig. Also ging das ganze Spiel von vorne los. Blutabnehmen und auf die Ergebnisse warten. Ansonsten musste ich  jeden Tag in der Praxis erscheinen, wo ich einen neuen Verband bekam. Und man wird es kaum glauben, aber so ganz langsam wurden meine Schmerzen weniger. Obwohl ja eigentlich nicht viel gemacht wurde. Ich war glücklich. Einmal wieder abends ins Bett gehen und ohne Schmerzen einschlafen können. Es wäre wunderbar. Mit diesen Voraussetzungen fiel es einem doch gleich viel leichter, auf die Untersuchungs-ergebnisse zu warten. Doch dann kam es hammerhart.

 

Es war Wochenende. Genauer gesagt, Sonntagmorgen. Als ich aufwachte, ein grausamer Schmerz im linken Arm. Aber nicht nur im Unterarm,  wie es auf der rechten Seite damals angefangen hatte, sondern im ganzen Arm. Von der Schulter über den Ellbogen bis ins Handgelenk und dazu sowohl im Ringfinger als auch im kleinen Finger kein Gefühl mehr. Meine Finger waren einfach tot. Ich saß heulend im Bett. Was war denn nun schon wieder los? Das konnte doch alles einfach nicht wahr sein. Jetzt hatte ich nach fast zwei Monaten endlich fast keine Schmerzen mehr in meiner rechten Hand, die Gefühlsstörungen der Finger waren zwar immer noch da, aber die taten ja nicht weh, damit konnte man leben und jetzt das. Das war ja noch schlimmer, als das, was ich nun schon überstanden hatte. Ich war am Boden zerstört. Heulend stand ich auf und wollte ins Bad gehen. Doch was war das? Ich konnte nicht mehr auf meinem linken Bein stehen.  Die  Fußsohle  war  taub. Ich hatte keine Kraft mehr. Mein Bein konnte mein Gewicht nicht mehr tragen. Ich humpelte auf meinem rechten Bein hüpfend ins Bad und zog mich an. Ich musste zum Arzt und zwar sofort. Nicht dass ich nur wegen der schier unerträglichen Schmerzen zum Arzt wollte, nein, ich hatte nun auch wirklich Angst um mich. Für meine Kinder muss es ein schrecklicher Anblick gewesen sein. Eine heulende, durch die Wohnung humpelnde Mutter, die nicht in der Lage war, auch nur ein Wort zu sprechen. Keiner hatte sich getraut mich zu fragen. Ich glaube die Kinder spürten den Ernst der Situation, obwohl sie bestimmt nicht verstanden, was gerade geschah. Ich humpelte die Treppe hinunter, schaffte es über den Hof in mein Auto und fuhr zum Krankenhaus, in dem ich ja selber arbeitete. Ich ging zur Notaufnahme und erklärte der Schwester, die ich leider nicht kannte – es war ein ziemlich großes Krankenhaus und ich kannte nur wenige Leute da – mein Problem. Kurz darauf kam der Arzt. Ich erzählte auch ihm meine Geschichte und er kam nach kurzem Überlegen zu der Ansicht, dass es wohl das Beste wäre den Arm einzugipsen und somit ruhig zu stellen. Jede Bewegung des Armes war sehr schmerzhaft und mir liefen die Tränen über die Wangen. Die Schwester, die den Gips anlegte, entschuldigte sich ständig bei mir, da sie dachte, sie täte mir weh dabei. Aber dem war nicht so. Der Arm tat auch weh, wenn ich ihn nicht bewegte. Es war einfach schrecklich. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Schmerzen. Selbst die Geburt eines Kindes – ich habe ja schließlich drei davon und kann so  ein bisschen mitreden – ist nicht vergleichbar mit diesen Schmerzen, sie waren bestimmt hundertmal schlimmer. Ich bekam wieder irgendwelche Schmerzmittel in die Hand gedrückt und durfte nach Hause gehen. Und ich ging wie ich gekommen war, nämlich heulend. Jetzt hatte ich den rechten Arm zugebunden und den linken eingegipst. Na klasse. Mit Mühe und Not schaffte ich es nach Hause zu fahren. Alle waren froh, dass ich wieder zu Hause war. Man konnte ihnen die Erleichterung  richtig  ansehen. Wenn  ich nicht im Krankenhaus bleiben musste,  konnte es auch nicht so schlimm sein, dachten sie wohl. Nur die Tränen in meinen Augen passten nicht so recht in dieses Bild.

 

Nun gut, ich war also wieder zu Hause. Ich legte oder besser gesagt setzte mich im Wohnzimmer auf die Couch. Ich hatte herausgefunden, dass es etwas weniger weh tat, wenn ich mich aufrecht hinsetzte und den Arm mit allen mir  zur Verfügung stehenden Kissen abstützte. Ich nahm ein paar von den Tabletten, die mir der Arzt gegeben hatte und schlief irgendwann ein. Im Sitzen versteht sich. Ich weiß nicht, wie lange ich so geschlafen hatte. Als ich die Augen aufmachte, sah ich, wie die Kinder verstohlen zur Wohnzimmertür hereinschauten. Als sie sahen, dass ich wach war und auch nicht mehr weinte, kamen sie zu mir. „Und, Mama geht es dir wieder besser,“ fragten sie? Und ich merkte, dass sie hofften,  dass ich „Ja“ sagen würde. Also sagte ich „Ja“. „Ja Kinder, mir geht es ein bisschen besser, aber ich habe immer noch Schmerzen“. Ich konnte die Erleichterung fast spüren. Sie setzten sich zu mir auf die Couch. Vorher wurde noch die Oma informiert, dass die Mama wieder unter den „Lebenden“ sei. Prima. Auch die Oma freute sich, dass es mir wieder besser ging. Sie hatte die Kinder den ganzen Tag, während ich im Krankenhaus war, versorgt und ihnen immer wieder gesagt, dass ich bald kommen würde. So gesehen war die Welt ja wieder in Ordnung. Ich nahm noch ein paarmal an diesem Tag meine Schmerztabletten und saß auf meiner Couch mit hochgelegtem Arm. Aber  viel besser wurde es nicht. Doch das behielt ich für mich. Schließlich wollte ich meine Familie nicht schon wieder beunruhigen. Die Nacht verbrachte ich ebenfalls sitzend. Wenn ich aufstehen musste, um auf die Toilette zu gehen, war das eine wirkliche Qual. Zum einen, weil ich dann meinen Arm bewegen musste, zum anderen weil ich nach wie vor kein Gefühl und keine Kraft in meinem linken Fuß hatte. Nach einer fast schlaflosen Nacht stand ich morgens auf und ging zum Arzt. Mein Hausarzt war immer noch in Urlaub, so dass ich  wieder zum Chirurgen gehen musste. Er war ziemlich überrascht, als er mich mit zwei weißen Armen sah. Ich erzählte ihm, was sich gestern ereignet hatte. Auch, dass ich diese Schwierigkeiten mit meinem Fuß hatte. Er war ratlos. Zwar waren in der Zwischenzeit auch meine Blutergebnisse da, aber so recht glücklich war er damit nicht. Es gab zwar ein paar mehr Hinweise auf eine Entzündung, aber irgendwie passte alles nicht so recht zusammen. Und vor allem machten ihm meine Gefühlsstörungen in den Fingern und jetzt auch in meinem Fuß zu schaffen. Also empfahl er mir zur Sicherheit, noch einen Neurologen aufzusuchen. Vielleicht konnte der ja herausfinden, woran ich litt. Ich war damit einverstanden  und  so  wurde  gleich  ein  Termin  für   mich vereinbart. Die Blutergebnisse wurden dorthin gefaxt, so dass auch dieser Arzt, wenn ich hinkommen würde, gleich über alles Bescheid wüsste. Der Termin war zwei Tage später. Ach so, ich hätte fast vergessen zu erwähnen, dass der Chirurg auch dieses Mal der Meinung war, dass der Gips an meinem Arm nichts bringen würde und er deswegen abgenommen wurde. Das Einzige was daran gut war, war der Gewichtsverlust an meinem linken Arm, denn die Schmerzen waren mit und ohne Gips dieselben. Auch die neuverordneten Schmerzmittel blieben ohne große Wirkung. Manchmal dachte ich zwar, dass es besser würde, aber das war immer nur von kurzer Dauer, danach waren die Schmerzen jedes Mal wieder genauso schlimm wie vorher auch. Es war zum Verzweifeln. Ich konnte schlucken was ich wollte, es half nichts. Wenn mir das vorher jemand erzählt hätte, dass so etwas möglich ist, ich hätte es nicht geglaubt. Ja, dass es bei Krebs im Endstadium zum Beispiel so etwas geben kann, das ist ja allgemein bekannt, aber das hatte ich ja nicht. Also warum konnten die Schmerzen dann nicht gestoppt werden? Tja, eine gute Frage war das schon, nur konnte sie mir leider niemand beantworten. Die Nacht konnte ich mehr schlecht als recht schlafen  und als ich am  nächsten Morgen aufstehen wollte, hat mich dann wirklich fast der Schlag  getroffen. Jetzt  war auch meine rechte Fußsohle taub. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Jetzt hatte ich zwei kaputte Arme  u n d  zwei kaputte Beine. Nein, ich konnte und wollte es einfach nicht glauben. Was kam denn jetzt wohl als nächstes dran? Ich war völlig verzweifelt. Kaputt, ausgebrannt, einfach leer. Diese Krankheit, was immer es auch sein mochte, schaffte mich. Ich wollte nicht mehr. Meiner Familie sagte ich natürlich nichts. Die wären nur noch mehr beunruhigt geworden, als sie es ohnehin schon waren. Ich rief meine Freundin an. Die war schließlich vom Fach. Sie arbeitete als Krankenschwester im Krankenhaus. Nicht in dem Krankenhaus, in dem ich arbeitete, sondern in dem anderen in unserer Stadt. Wir telefonierten bestimmt eine Stunde miteinander. Mit ihr konnte ich reden. Ihr konnte ich all das sagen, was ich meiner Familie nicht sagen konnte. Aber geändert hatte es auch nichts. Sie wünschte mir viel Glück für den Besuch beim Neurologen morgen und sagte, dass sie sich am nächsten Tag wieder melden würde. Ich saß ziemlich deprimiert zu Hause und zählte die Stunden, die noch vergehen mussten, bis ich zum Arzt gehen konnte. Wieder ein Arzt mehr in meiner Sammlung. Wieder ein Arzt, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Was würde mich morgen wohl erwarten? Würde mir morgen früh, wenn ich aufwachte,  wieder etwas anderes weh tun oder gefühllos sein? Oder was konnte sonst noch passieren? Ich hatte keine Ahnung. Und das war auch gut so, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Vorstellung hatte, was noch alles auf mich zukommen würde. Es kam auch so noch früh genug. Der nächste Morgen wurde also mit Spannung erwartet. Als ich wach wurde, ich schlief immer noch im Sitzen, beobachtete ich zuerst einmal meinen Körper, ob nicht vielleicht schon wieder etwas anderes, wie das schon gehabte, weh tat. Doch - oh Wunder - nein. Es war alles beim Alten geblieben. Ich stand auf, duschte mich und ging zum Neurologen. Um die Kinder brauchte ich mich nicht zu kümmern, die wurden in dieser Zeit vollständig von unserer Oma versorgt. Gott sei Dank! Darüber war ich wirklich sehr froh. Also machte ich mich auf den Weg  zum  Arzt. Es  war ein sehr  netter,  ruhiger Mann, mit dem man sehr gut reden konnte. Über meine Krankheitsgeschichte war er schon einigermaßen informiert worden und den Rest erfragte er sich bei mir. Er führte verschiedene Untersuchungen durch, unter anderem überprüfte er auch einige Reflexe. Das heißt, er versuchte sie zu überprüfen. Aber ich hatte keine mehr. Es war tatsächlich so. Ich hatte tatsächlich keine Reflexe mehr. Wie war denn das möglich? Ich wusste es nicht und konnte es mir auch überhaupt nicht vorstellen, da dies ja Dinge waren, die nicht meinem Willen unterworfen waren. Nun gut, ich war ja auch kein Fachmann. Woher sollte ich wissen, welche Krankheit so etwas auslösen konnte. Aber er, er war der Fachmann. Er musste es doch wissen, dachte ich. Aber weit gefehlt. Er wusste es auch nicht. Hatte so etwas in seiner ganzen langjährigen Praxis noch nicht erlebt. Ich war total geschockt. Wer sollte es dann wissen, wenn nicht er? Er würde mich gerne ins Krankenhaus schicken, hörte ich ihn auf einmal sagen. Die Kollegen sollten mich doch mal ganz durchchecken. Krankenhaus! I c h sollte ins Krankenhaus. Wie stellte er sich denn das vor? Ich war alleinerziehende Mutter von drei Kindern. Ich konnte mich doch nicht so einfach ins Krankenhaus legen. „Nein“, sagte ich, „das geht nicht, was soll ich denn mit meinen Kindern machen?“ Er versuchte mir noch einmal klar zu machen, dass er mir so nicht weiterhelfen könnte und er mir dringend empfehlen würde, ins Krankenhaus zu gehen. Doch ich konnte mich so schnell einfach nicht zum „Ja sagen“ entscheiden. „Ich würde das erst gerne mit meinem Hausarzt besprechen“, sagte ich ihm. Er war damit einverstanden. Heute war Freitag und mein Hausarzt würde am Montag aus dem Urlaub zurück sein. Solange musste einfach Zeit sein. Für mich bedeutete das zwar, noch ein weiteres Wochenende mit Schmerzen und noch mehr Ungewissheit über meinen Gesundheitszustand, aber ohne meinen Doc wollte ich nichts entscheiden. Also wartete ich ab. Am  Montagmorgen  rief  ich also in der Praxis an, um einen Termin  zu  vereinbaren. Umso überraschter  war ich, als sie mir mitteilten, dass sie auf meinen Anruf schon gewartet hätten,  da der Neurologe schon morgens um acht  Uhr angerufen und mit meinem Doc über mich gesprochen hatte und ich sollte doch wenn möglich sofort kommen. Nanu, dachte ich. Was passiert jetzt? Die Herren Doktoren telefonierten miteinander. War so etwas normal? Ich wusste es nicht. Aber so ganz langsam beschlich mich der Verdacht, es könnte etwas ganz furchtbar Schlimmes sein, woran ich litt und es wollte mir bloß keiner sagen. Also fuhr ich mit sehr gemischten Gefühlen zu meinem Doc. Es war nicht viel los in der Praxis, sodass ich auch nicht lange warten musste. Gott sei Dank! Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hatte Angst. Zum ersten Mal spürte ich dieses Scheißgefühl in mir.... Was war nur mit mir los?

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